Die Vollkommenheit eines Menschen besteht darin, dass er/sie die eigene Unvollkommenheit erkennt und anerkennt. Nicht die Perfektion, die vollendete Gegenwart, das „Perfekt“, macht den Reifegrad eines Menschen aus, sondern das Imperfekt, die Geschichte, deren Ausgang noch offen ist, das Noch-Unvollendetsein.
Selbst der Größte unter den Menschen, der Jude Jesus, hat aus diesem Bewusstsein gelebt. Als ein Bewunderer ihn kniefällig mit den Worten anredet: „Guter Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?“ (Mk 10, 17) – was so viel heißt wie „um die Vollendung zu erlangen“ (im Hinduismus vielleicht: Samadhi) – bekommt er als erstes eine Abfuhr: „Was nennst du mich gut? Niemand ist gut außer G’tt, dem Einen“ (Mk 10, 18).
Jesus kannte mit anderen Worten seine Grenzen.
Die eigenen Grenzen, die eigene Begrenztheit zu kennen, ist das entscheidende Qualitätsmerkmal des vollkommenen Menschen – so paradox das auch klingen mag! Voraussetzung dafür ist allerdings die Bereitschaft, bis an die eigenen Grenzen zu gehen, sie wirklich auszuloten!
Im Blick auf Jesus bedeutet das: gemäß der Thorah zu leben (= die Gebote zu halten) und obendrein auf Hab und Gut zu verzichten, es zu verkaufen und den Erlös den Armen zu geben. Radikaler geht es nicht. Jesus hat es getan. Sich nichts darauf einzubilden, ist in der Tat vollkommen.
Jesus dafür zu bewundern (heute: anzubeten) wie der Mann in der obigen Geschichte, greift zu kurz, denn Anbetung gebührt einzig „dem Einen“ - יהוה ICHBINDA. Jesus rät, ihm lieber nachzufolgen in der radikalen Besitzlosigkeit.