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Dr. Josef Wimmer · October 15, 2021

Vor der ersten Niederwerfung am Morgen vollziehe ich einen Lichtritus, mit dem ich mich daran erinnere, dass Jesus der Christus das Licht ist. Ich halte in jeder Hand ein brennendes Teelicht, und während ich mich jeweils in eine der vier Himmelsrichtungen verneige, singe ich „Lumen Christi – Deo gratias“ in der Melodie, die bei der katholischen Osternachtfeier in Gebrauch ist.
Da ich gen Osten beginne, höre ich nach Süden gewandt auf. Die Lichter hocherhoben singe ich dann: „Christus Sieger, Christus König, Christus Herr in Ewigkeit“. Bei dem Ruf „Christus König“ erhebe ich die Lichter noch etwas höher, und beim letzten Ruf drehe ich mich einmal um meine eigene Achse.
Dann stelle ich eines der Lichter auf meinen Marienaltar vor die Madonna mit dem lachenden Kind und singe ihr das „Sub tuum praesidium confugimus“. Das zweite Licht trage ich vor meinen Dreifaltigkeitsaltar, verneige mich und stelle es in die tönerne Lichterschale aus Südamerika, die von fünf sich gegenseitig mit den Armen umfassenden Menschenkindern umringt ist.

Heute kam mir dabei der Satz: „Ja, Christus, d u b i s t m e i n L i c h t in dieser dunklen Zeit!“

In einer „Tag-für-Tag“-Sendung im Deutschlandfunk wurde über die kritischen Stimmen berichtet, die zur umlaufenden Kuppelinschrift des Berliner Humboldt-Forums laut werden. Die Inschrift lautet: „Es ist kein anderer Heil, es ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben, denn der Name Jesu, zu Ehren des Vaters, dass im Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind.“ Der Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. hat sie selber kompiliert, und wie nicht anders zu erwarten, ist sie auch politisch lesbar. Schließlich haben die Hohenzollern bis zur Selbstexilierung von Kaiser Wilhelm II. und zum Teil noch bis heute ungebremst antidemokratisch agiert und dafür als Herrscher „von Gottes Gnaden“ oft genug die christliche Religion missbraucht.
Der politische Missbrauch des Christentums und die Liebedienerei christlicher „Kirchenfürsten“ gegenüber den jeweiligen Inhabern der Macht hat eine lange und zum Teil gruselige Geschichte.
Abgesehen davon, dass eine derartige öffentliche Propaganda für den Namen des Stifters der christlichen Religion in den gegenwärtigen religiös verarmten und umkämpften Zeiten vermutlich kontraproduktiv ist, ist die geistlich-spirituelle Wahrheit dieses Satzes für einen gläubigen Christen unbestreitbar. Denn es gibt in der Tat keinen anderen Menschen und Religionsstifter, der, arm und machtlos wie er war, bis zur äußersten Entwürdigung und Entehrung seiner Person und bis zur Aufopferung seines Lebens die ursprüngliche g’ttliche Liebesbotschaft seines jüdischen Glaubens (und damit wohl eines jeden Glaubens) bezeugt hätte, die da lautet: ICH BIN DA!
Was immer man von den sich wandelnden Staatswesen und Kirchengebilden und sogar Religionen halten mag – dieses ICH BIN DA gilt. Und wir entsprechen ihm am besten, indem wir uns selber darin üben, in allem Tun und Lassen ganz DA zu sein, präsent zu sein, uns selber zu vergegenwärtigen. Darin ist bereits Liebe genug.