143

Dr. Josef Wimmer · December 7, 2021

Voltaire’s Ausspruch auf dem heutigen Abreißkalenderblatt: „In einer irrsinnigen Welt vernünftig sein zu wollen, ist schon wieder ein Irrsinn für mich“ erinnert mich an das Diktum von Theodor W. Adorno: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“. Es hat uns in den Nach-68-er-Jahren begleitet, als wir uns begeistert die Kritischen Theorien der Frankfurter Schule zu eigen gemacht haben…

Ob es nun ein „richtiges“ oder ein „falsches“ ist, ob vernünftig oder irrsinnig – es bleibt (m)ein LEBEN.

Für mich ergibt sich daraus die Frage, wie ich es unabhängig von „falsch“ oder „richtig“, „vernünftig“ oder „irrsinnig“ gestalte.

In vielen spirituellen Traditionen spielt das Atmen eine zentrale Rolle. „Alles, was atmet, lobe יהוה – ICHBINDABEIEUCH. Halleluja“ lautet meine deutsche Übersetzung des allerletzten Verses im Buch der Psalmen (Ps 150, 6).

Das Lob des Allgegenwärtig-Seienden geht natürlicherweise immer mit dem Atmen einher, ob wir nun stillsitZEN und schweigen oder laut bzw. leise beten und/oder singen, ob wir stehen, gehen, ruhen, schlafen, wachen, essen, trinken.
Immer ist der Atem beteiligt, solange wir leben – selbst dann, wenn er nur ganz flach ist…

Wir können mit Fug und Recht sagen: Atmen IST G’tteslob, ob es nun bewusst oder unbewusst geschieht, ob es nun G’tt in unserem Leben gibt oder nicht.

Beim Singen achten wir gewöhnlich mehr auf das Atmen, weil wir immer wieder „Luft holen“ müssen (wobei das Luftholen bekanntlich mehr ein „Die-Luft-einströmen-Lassen“ sein sollte!).

Ich z.B. fange meinen Tag morgens im Bett mit Singen an. Es macht mich wach und belebt mich, es reinigt meine Bronchien, es bewegt meine inneren Organe und regt mich an, meine Gliedmaßen zu bewegen.

Was wir singen, kann von Person zu Person verschieden sein; es kommt nicht auf einen bestimmten Gesang und schon gar nicht auf einen einheitlichen an. Ich z.B. singe mehrere Gesänge mehrmals hintereinander: eine bei meinen Trappisten in Engelszell gelernte marianische Antiphon, danach das Maha Mritjunjaya Mantra, dann die vier lateinischen Grundgebete meiner Kirche. Mein Singen endet mit einem Gebet für alle Menschen (mich eingeschlossen), bei dem ich, beginnend mit dem Hl. Josef, alle meine Heiligen um ihre Fürsprache bitte.

Bei allem Singen und Beten bemühe ich mich, ganz und von Herzen geistesgegenwärtig zu sein, auch und gerade hinsichtlich des Atmens.

Erst danach stehe ich auf und mache meine diversen Körperübungen – immer in Verbindung mit dem bewussten Atmen.
All diese Übungen sind Teil meines ganztägigen „Präsenzdienstes“ und machen mich dank meiner in diesen coronarischen Zeiten gepflegten, weitgehend eremitischen Lebensweise in ganz neuer Weise „fromm“.

Frommsein bedeutet für mich vor allem innerlich gestillt, gesammelt, achtsam und liebevoll DA SEIN vor dem Allgegenwärtigen, vor יהוה – ICHBINDABEIEUCH.
Es hat nichts mit Augenverdrehen, Kopfschräghalten, Händefalten, Gebetemurmeln etc. zu tun.

Frommsein ist schlicht und einfach: geistesgegenwärtig Leben.