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Dr. Josef Wimmer · December 10, 2021

Oskar Loerke, ein herausragender, wenn auch leider immer noch viel zu wenig bekannter deutscher Lyriker des vergangenen Jahrhunderts, schrieb das folgende Gedicht „An die Grundmächte“:

Es zählt vor euch nicht, dass ich Schmerzen leide.
Es schweigt die Weide,
Wenn man zur Flöte sie schneidet und schält.
Doch dass ich leide und nicht meutere,
Und was ich mir draus läutere
Zum Zwiegespräch mit euch, es zählt.

Was sind „die Grundmächte“? Für hier und jetzt seien es apersonale („selbst“-lose), wirkmächtige geballte Ur-Kräfte und Ur-Gewalten der Natur wie auch der Übernatur, der stofflichen wie auch der feinstofflichen und der geistigen Welt. Mitleidlos bestimmen sie den Lauf der Dinge und das Geschick alles Lebendigen. Ihnen gilt alles gleich, ist ihnen in ihrer radikalen Objektivität gleichgültig.
Dennoch spricht das Ich des Dichters sie an und gibt ihnen einen Namen: „Grundmächte“ nennt er sie, und wir sind ihnen anscheinend hilflos ausgeliefert. Sie bleiben ungerührt, wenn wir „Schmerzen“ – gleich welcher Art und welchen Ausmaßes – erleiden. Es „zählt“ vor ihnen „nicht“, fällt nicht ins Gewicht. Das subjektiv Erlittene ist objektiv bedeutungslos. Für das ewige Spiel dieser Grundmächte sind wir der Stoff, aus dem sie die Instrumente formen, mit denen sie dann musizieren. Wir müssen es in eherner Notwendigkeit erleiden; wir kommen nicht darum herum…
Aber der Dichter antwortet aus seiner ureigenen Kraft, die geradezu ihr Gegenpol ist, jenseits allen Ausgeliefertseins. Er erleidet nicht rein passiv; vielmehr trägt er das Leiden und seine „edle Wahrheit“ aktiv und ohne sich ihm zu widersetzen.
Der Dichter ist kein verstummter und apathischer Dulder. Er geht mit dem Leiden um, und sein Umgang ist aktive Läuterungsarbeit: er befreit gewissermaßen das Leiden von seinen subjektiven „Schlacken“ und formt daraus gültige Worte und Verse und Sprachbilder, die er in sein „Zwiegespräch“ einbringt – in den poetisch-metaphorischen, philosophisch-religiösen Dialog mit eben diesen Grundmächten.
Seine Gedichte haben theologisch betrachtet den Charakter von Gebeten ohne Gottesadresse. Sie sind eingebettet in ein lebendiges Spiel von Rede und Gegenrede, Anrede und Antwort – wie auch immer es hörbar oder sichtbar oder lesbar, sinnlich oder geistig erfassbar werden mag. Und diese überindividuelle Quintessenz, das Gedicht, ist so metaphysisch gewichtig wie die Urgewalten, denen es letztlich auch selber entstammt. Sie sind dichterisch. Poesie.

Und die „zählt“.