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Dr. Josef Wimmer · December 15, 2021

Während wir aus der Traumwelt zur Alltagswirklichkeit erwachen, ist unser Bewusstsein noch in alle Richtungen offen, auch für die ozeanischen Tiefen der Seele. Wenn es uns gelingt, in dieser Offenheit zu verweilen – und dazu braucht es nur unser Zulassen, aber kein Tun – können wir früheste Zeiten unseres Lebens schauen und ungeahnte Zusammenhänge entdecken.

Eine der bedrohlichsten Erfahrungen im frühkindlichen Alter ist das Alleingelassensein. Das Gefühl von extrauteriner Nähe und Verbundenheit ist da noch so wenig entwickelt, dass es ständig der Verstärkung von außen, durch die nächsten Bezugspersonen – Mutter und Vater – bedarf. Erst allmählich und anfangs nur über kurze Zeitspannen lernt das Kind, deren Abwesenheit auszuhalten. Zunächst aber gerät es in Panik, wenn es sich alleingelassen fühlt, ohne Ansprache und Zurede, ohne „animalische“ Wärme durch Körperkontakt und Berührung, ungeborgen in der Dunkelheit der Nacht oder in der Hitze des Tages. Diese Panik ist nichts anderes als kreatürliche Todesangst – auch wenn der Säugling, das Kleinkind noch gar nicht weiß, was „Tod“ ist.

Wie gehen wir in diesen frühen Lebensphasen mit dem Alleingelassensein um? Wie äußern wir unsere Angst?

Wir weinen und jammern, schreien aus Leibeskräften, brüllen uns „die Lunge aus dem Leib“ – „aus tiefer Not schrei ich zu dir…“.

Wenn wir Erfolg haben und Jemand kommt, sind wir erlöst und beruhigen, entspannen wir uns wieder.
Die körperlich-seelische Not wird gelindert, die Wunde des Verlassenseins heilt. Aber die Erinnerung bleibt – in den Geweben unserer Körper und im Gewebe unserer Seelen! Und diese Gewebe vergessen nie. Sie sind geprägt für immer und können jederzeit wieder re-aktiv werden, wenn wir erneut allein gelassen sind.
Haben wir keinen Erfolg, kommt keiner und bleiben wir über unerträglich lange Zeit allein, verstummen wir und schlafen womöglich erschöpft vom Schreien ein, alleingelassen mit unserem Schmerz. Wir ziehen uns in uns selbst zurück, auf die vegetative Ebene, und geben den Kontakt zur Außenwelt auf. In seltenen Fällen kann es auch sein, dass die Lebensgeister uns gänzlich verlassen und wir sterben. Überleben wir jedoch, haben wir uns als lebenstüchtig erwiesen – wenn auch beschädigt vom Kämpfen…

Die Erfahrung des Alleinseins ist existenziell. Sie kehrt in unterschiedlicher Form immer wieder und ist zuletzt auch Teil des Sterbeprozesses. Unser Umgang mit ihr wandelt sich, wir entwickeln in unserer ureigenen Kreativität immer neue Formen, ihr zu begegnen.

Eine dieser Formen ist das Singen – ein verfeinertes Weinen. Beim Singen hören wir unsere eigene Stimme und werden mit ihr vertraut. Sie ist ein zweites Selbst, durch das unser primäres hindurchtönt – persona. Durch die Stimme tönt unser Wesen, durch sie hören wir unser Selbst. Nicht von ungefähr spielt das Singen in allen Religionen eine bedeutende Rolle: durch das Singen (und auch das Musizieren!) heiliger Worte und Melodien ertönt das göttliche Wesen, wird unsere ursprüngliche, paradiesische Verbundenheit mit יהוה ICHBINDABEIEUCH, ja unser EINSSEIN, hörbar und spürbar.

Wollen wir uns aktiv mit unserem Wesen verbinden – und das ist für die Alltagsbewältigung gerade in Zeiten wie diesen sehr von Vorteil – lassen wir die Stimme am besten schon morgens ertönen und lauschen ihr zugleich. Wenn wir erst damit anfangen, finden wir im Lauf der Zeit ganz von selbst zu den Gesängen, die uns wohltun und - durch sie zu unserer „Lebensmelodie“…