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Dr. Josef Wimmer · January 7, 2022

Unter meiner durchsichtigen Schreibtischauflage liegt seit 25 Jahren ein inzwischen vergilbter Zettel. Ich hatte ihn damals von meinem Don-Bosco-Abreißkalender genommen und mir stets sichtbar hinlegen wollen. Die Maximen von Mahatma Gandhi unter der Überschrift „Das tägliche Gebet“ haben mich zutiefst überzeugt, und ich wollte sie mir immer mehr zu eigen machen. Ich will es nach wie vor und mehr denn je.

Sie lauten:

„Ich will bei der Wahrheit bleiben.
Ich will mich keiner Ungerechtigkeit beugen.
Ich will frei sein von Furcht.
Ich will keine Gewalt anwenden.
Ich will guten Willens sein gegen jedermann.“

Würden wir in der gegenwärtigen Weltlage diese Maximen konsequent befolgen, kämen wir vermutlich bald wieder aus den unsäglichen Spannungszuständen heraus, in die wir uns hineinmanövriert haben und die uns individuell wie gesellschaftlich belasten.

Was bedeuten diese Sätze, durch deren Umsetzung Mahatma Gandhi den friedlichen Übergang von der britischen Kolonialherrschaft über ganz Indien zur Unabhängigkeit und demokratischen Verfassung seines Landes, immerhin eines ganzen „Subkontinents“, eingeleitet hat?

„Bei der Wahrheit bleiben“ heißt: sich nie zufrieden geben mit dem, was einem vorgesagt wird, immer und solange nachfragen, bis zweifelsfrei feststeht, was Sache ist, was stimmt und sich auch stimmig anfühlt, was nachweislich zutrifft und richtig ist, was in Wirklichkeit der Fall ist.

Mahatma Gandhi hat sich vorgenommen, sich keiner Ungerechtigkeit zu beugen. Um das zustande zu bringen, braucht es einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit – dafür, ob einzelne Menschen oder Gruppen gegenüber anderen Nachteile erleiden, benachteiligt, ausgebeutet, ausgegrenzt, m.a.W. von Mitmenschen in gleich welcher Position oder Funktion ungerecht behandelt werden. Und es braucht den Mut, sich dagegen auszusprechen, Ungerechtigkeit zu benennen und anzuprangern, die Forderung nach Gerechtigkeit aufzustellen und aufrechtzuerhalten. Jedem Menschen soll Gerechtigkeit zuteil werden!

Freiheit von Furcht erreichen wir, indem wir uns als erstes vornehmen, dass wir sie erlangen wollen; indem wir sodann in uns selbst ergründen, was es ist, das wir befürchten; indem wir uns schließlich innerlich von der Identifikation mit dem lösen, was wir in unserer Furchtsamkeit bedroht sehen; indem wir erkennen, dass es nichts zum Anklammern oder Festhalten oder Anhaften gibt. Janis Joplin sang einst „Freedom’s just another word for nothin‘ left to loose“…Es gibt nichts zu verlieren und also nichts zu befürchten – nicht einmal das Leben!

„Ich will keine Gewalt anwenden“ ist vielleicht in unserer gegenwärtig angespannten politischen Situation der wichtigste Grundsatz. Bleiben wir friedfertig, kämpfen wir gewaltlos für die gerechte Sache, kommunizieren wir gewaltfrei, verzichten wir selbst auf die subtilsten Formen gewaltsamer Sprache, geschweige denn auf offene Aufrufe zu gewaltsamen, brachialen Formen des Widerstands gegen ungerechte Verhältnisse! Agieren wir niemals gewaltsam! Bleiben wir in der vertrauensvollen Gewissheit, das dem Guten die Zukunft gehört, die Gutwilligen bestehen und die Böswilligen vergehen werden – denn das ist das Gesetz und die Wahrheit aller Religionen! Bleiben wir in der Liebe!

Die Liebe, in der wir bleiben, indem wir auf Gewalt verzichten, äußert sich im „guten Willen“ gegenüber jedermann und jedefrau. Wir begegnen jedem Menschen in guter, friedfertiger und freundlicher Absicht. Wir meinen es gut, wir bemühen uns, in jedem Menschen das Gute zu sehen und zu fördern. Wir unterstellen niemandem von vornherein etwas Böses, wir enthalten uns aller Vorurteile und Vorverurteilungen. Wir hören erst zu bevor wir antworten und reden; wir bemühen uns, mehr zu verstehen als urteilen; wir versuchen stets, die Einheit in aller Vielfalt zu sehen und zu wahren.

Eugen Drewermann mahnt uns, die Spaltungstendenzen umzukehren. Die Maximen Mahatma Gandhis können uns dabei helfen.