Seit meinem 14. Lebensjahr übe ich mich in dem, was Romano Guardini so übersetzt: „Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Beginn, und weise sind alle, welche sie üben“ (Ps 110, 10 in: Deutscher Psalter, 5.Auflage, München 1966). Damals war ich im Internat der Wittelsbacher im Schloß Tegernsee. Unter dem Direktorat des Priesters und meines baldigen Ersatzvaters Norbert Tholl beteten wir Albertiner jeden Morgen und jeden Abend Psalmen, die Guardini Ende der 40er Jahre kongenial übersetzt hatte. Sie haben sich tief in mein Inneres eingeprägt. Der oben zitierte Vers 10 aus dem Psalm 110 hat mich besonders angesprochen, und ich schrieb damals in mein Tagebuch eine längere Betrachtung über ihn. Ich wollte weise werden und erkannte an diesem Satz, womit ich anfangen müsste, um mein hohes Ziel zu erreichen: mit der Übung der „Furcht des Herrn“.
Was aber ist die „Furcht des Herrn“?
Im Hebräischen Urtext (als Ps 111 !) lautet der Vers:
rei-sheet cḥoḵh-māh yir-’aṯ יהוה śê-ḵhel tov lə-ḵhol ‘ō-śêi-hem.
רֵאשִׁית חָכְמָה יִרְאַת יְהוָה שֵׂכֶל טוֹב לְכָל עֹשֵׂיהֶם
Yirat יהוה, die „Furcht des Herrn“, ist die Haltung, die dem liebevollen GegenwärtigSein entspricht: eine heilig-ernste und zugleich freundlich-zugewandte nüchterne Präsenz in allem Tun und Lassen.
Jahrzehntelang habe ich diese Furcht als ein Mich-Fürchten(-Müssen) vor einem strengen und fordernden „Herrn“ („Vater“) verstanden und mich kaum getraut, einfach nur zu leben und mich meines Lebens zu freuen.
Inzwischen mache ich mir kein Bild mehr von יהוה, weder das eines „Herrn“ noch das eines „Gottes“ und nicht einmal das eines liebenden und barmherzigen Vaters, wie ich es von Jesus gelernt habe. Ich benütze zwar nach wie vor diese Wörter. Aber in der Übung der Liebenden Präsenz gehe ich über sie hinaus und bin auf einer Meta-Ebene, auf der nur noch EIN GEGENWÄRTIGSEIN existiert und zählt: יהוה ICHBINDA.