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Dr. Josef Wimmer · August 18, 2021

„Einst machten sich die Bäume auf, um sich einen König zu salben, und sie sagten zum Ölbaum: Sei du unser König! Der Ölbaum sagte zu ihnen: Soll ich mein Fett aufgeben, mit dem man Götter und Menschen ehrt, und hingehen, um über den anderen Bäumen zu schwanken?
Da sagten die Bäume zum Feigenbaum: Komm, sei du unser König! Der Feigenbaum sagte zu ihnen: Soll ich meine Süßigkeit aufgeben und meine guten Früchte und hingehen, um über den anderen Bäumen zu schwanken?
Da sagten die Bäume zum Weinstock: Komm, sei du unser König! Der Weinstock sagte zu ihnen: Soll ich meinen Most aufgeben, der Götter und Menschen erfreut, und hingehen, um über den anderen Bäumen zu schwanken?
Da sagten alle Bäume zum Dornenstrauch: Komm, sei du unser König! Der Dornenstrauch sagte zu den Bäumen: Wollt ihr mich wirklich zu eurem König salben? Kommt, findet Schutz in meinem Schatten! Wenn aber nicht, dann soll vom Dornenstrauch Feuer ausgehen und die Zedern des Libanon fressen.“

Diese Fabel aus dem hebräischen Buch der Richter ist nicht nur „die stärkste antimonarchistische Dichtung der Weltliteratur“, wie Martin Buber feststellte (aus: Königtum Gottes, 1932, Seite 29; Heidelberg ³1956, Seite 24). Sie ist darüber hinaus eine Fundamentalkritik jeglicher zwischenmenschlichen Herrschaftsstruktur und des Verlangens danach. Vor allem aber ist sie ein herausragendes überzeitliches Plädoyer für ein herrschaftsfreies (an-archisches) Miteinander der Menschen. In Abwesenheit von Herrschaft besteht die „königliche“ Aufgabe, wenn man so will, der Menschen lediglich darin, ganz sie selber zu sein und ihre ureigene Berufung zu leben. Wären Gemeinschaften und Gesellschaften so strukturiert, dass jedes Mitglied das Seine/Ihre tut, so gut es kann, könnten alle einander in liebevoller Präsenz auf Augenhöhe begegnen und יהוה ICHBINDA G’tt sein lassen.
Diese gesellschaftliche bzw. gemeinschaftliche Ordnung käme dem am nächsten, was G’tt von uns will – das Reich von יהוה, der endzeitliche Schalom wäre gekommen…