Alles fängt in dem an, was ohne Anfang ist: im gestaltlosen Uranfänglichen. Von ihm geht alles Seiende aus und zu ihm kehrt es zurück. Wir symbolisieren es als liegende Acht, dem sog. Unendlichkeitszeichen.
Nun, da der Sommer sein Ende vorbereitet, kommt zugleich ein neuer Anfang in den Blick. Beides spricht Rainer Maria Rilke in seinem berühmten Gedicht „Herbsttag“ an, geschrieben in Paris zur Tag- und Nachtgleiche am 21. September 1902, also vor 119 Jahren (http://rainer-maria-rilke.de/06b012herbsttag.html:)
Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren
und auf den Fluren lass die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten, voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
In kunstvoll gereimten Strophen und plastischen Bildworten betet der Dichter zu seinem Gott, sagt zu ihm ganz klassisch jüdisch-christlich „Herr“ und sagt ihm die Zeit an. Ansage eines Endes, des Abspanns: Sommer war, und war groß, ein Sommer voll Lebendigkeit, Buntheit, Wachstum, praller Schönheit. Sehr groß, alles andere als gewöhnlich!
So wie unser diesjähriger Sommer auch mit all seinen Wettern und Unwettern!
Im Jetzt des Dichters ist es genug: jetzt möge der Herr das Dunkel wieder wachsen lassen und durch die Herbstwinde alles Irdische als Vorüberwehendes sichtbar machen!
Gleichzeitig möge der Herr noch allem, was die Erde hervorbringt, einen letzten Reifungsschub verleihen, damit Fülle und Vollendung sei, wenn die bevorstehende Erntezeit beginnt. Der schwere Wein braucht die Kraft der frühherbstlichen Sonne, um aus ihr die „letzte Süße“ zu gewinnen!
Wie aber steht es um unsereins? Wir kennen und anerkennen das den Wettern ausgesetzte pflanzliche Wachsen und Reifen binnen eines Jahres schon lange nicht mehr als das eigene. Wir sind vielmehr für unsere Vollendung auf überdauernde Behausungen angewiesen und auf die Geborgenheit schenkende Gemeinschaft derer, die mit einem/r das Leben teilen und feiern.
Wer das nicht hat, ist im Herbst seines/ihres Lebens arm dran.
Unbehaust und einsam geht der Mensch dann seiner Wege, findet keinen Schlaf in der Unruhe seines Herzens und sehnt sich in langen Briefen nach wärmender Nähe und Zärtlichkeit.
Was für ein trauriges Ende ist solchen Menschen beschieden! Niemand würde es sich oder anderen wünschen!
Wer in diesen Zeilen den Ernst der existentiellen Lage erkennt, möge sich vielleicht doch noch besinnen und einen neuen Schritt, einen ersten womöglich, auf seine Mitmenschen zu wagen. Rilke ermahnt uns in der dritten und menschlich dichtesten Strophe des Herbsttag-Gedichtes indirekt, unser oberflächlich dahinplätscherndes Leben zu ändern und aus der versponnenen Selbstbezogenheit auszuwandern.
Vollendung und Frieden finden wir nur, wenn wir in Beziehung leben, im Kontakt zu unsereinem und zur Welt um uns.
Möge es dir zuteil werden!
P.S.: Auf dem Grabstein des begnadeten Lyrikers und Mystikers im schweizerischen Raron steht der von ihm selbst verfasste Spruch:
„Rose, oh reiner Widerspruch, Lust,
niemandes Schlaf zu sein unter so viel
Lidern“